Nur die ältere Generation verfügt noch über persönliche Erinnerungen an die Schwierigkeiten, Beeinträchtigungen und Sorgen infolge der vorübergehenden Abtrennung des westlichen Teils von Suderwick kurz nach dem zweiten Weltkrieg: Fast anderthalb Jahrzehnte, von April 1949 bis Anfang August 1963, lebte ein Drittel der Suderwicker Bevölkerung unter niederländischem Recht und zählte somit, gegen den eigenen Willen, vorübergehend und de facto zur Bürgerschaft Dinxperlos.
Dieses „Grenzlandschicksal“, das 342 Frauen, Männer und Kinder aus Suderwick (darunter 28 Niederländer) mit rund 8.000 weiteren Bewohnern deutscher Grenzgebiete von Emden bis Aachen teilen mussten, bildet das letzte Kapitel einer seit dem 19. Jahrhundert zunehmend „schwieriger“ werdenden niederländisch-deutschen Nachbarschaft mit dem traurigen Tiefpunkt der Nazi-Ära von 1933-45 und – aus der Vogelperspektive des Historikers betrachtet – den Abschluss einer hinter uns liegenden, nationalstaatlich getrennten Epoche Europas, von der die Staatsgrenzen als „Narben der Geschichte“ (Alfred Mozer) zurückgeblieben sind: Je nach Witterung oder Empfindlichkeit können sie unterschiedlich jucken, auch schmerzen, werden mit den Jahren aber beinahe unsichtbar.
Heute sind die Aufregungen, Befürchtungen, manchmal sogar hysterischen Reaktionen auf deutscher Seite vor, während und nach Beendigung dieser Zeit der „Grenzkorrektur“ nur noch schwerlich nachzuvollziehen, gleichwohl gehören sie in die Bestandsaufnahme des nachbarschaftlichen Miteinanders von Dinxperlo und Suderwick, zumal sich in den Jahren 1949 bis 1963 das Verhältnis im Zeichen der beginnenden europäischen Integration grundlegend gewandelt hat. War die Verlegung des Schlagbaums um ca. 180 m nach Osten, vom Hellweg zur Evangelischen Kirche, am 23. April 1949 Schlusspunkt einer längeren, noch ausschließlich national geführten Auseinandersetzung zwischen (niederländischen) Annexionswünschen und (deutschen) „Grenzland ist deutsch“-Kundgebungen, so vollzog sich die Zurückverlegung der Grenze am 1. August 1963 bereits überwiegend im Rahmen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Euregio, die ja beide zur allmählichen Überwindung der europäischen „Binnengrenzen“ beitragen sollten.
Zwar hatten niederländische Stellen vor und unmittelbar nach Kriegsende im größeren Umfange – die Forderungen der regionalen Komitees summierten sich auf 2.440 km2 Land mit 240.000 Einwohnern – Gebietsabtretungen als Kompensation für die deutschen Kriegsverbrechen während der Besatzungszeit verlangt, so daß ganz Suderwick ebenso wie fast das gesamte Vreden (um beim heutigen Kreis Borken zu bleiben) der „Grenzbegradigung“ zum Opfer gefallen wären, aber im Pariser Abkommen zwischen den USA, Großbritannien und den Benelux-Staaten vom 22. März 1949 kam es insgesamt nur zu eher geringfügigen Grenzkorrekturen, die dann aufgrund der Verordnung Nr. 184 der britischen Besatzungsmacht und gemäß offizieller Mitteilung der niederländischen Regierung vom 26. März 1949 in den Morgenstunden des 23. April zur Verlegung der Schlagbäume führten.
ln der zweisprachig abgefassten Proklamation des Ministerie van Binnenlandse Zaken wurde der westliche Teil von Suderwick „voorlopig toegevoegd aan Nederland/vorläufig den Niederlanden angegliedert“. Wie reagierten die Menschen auf diesen von der „großen Politik“ diktierten Trennungsakt? Auf Dinxperloer Seite keineswegs mit Jubel, denn die Vergrößerung der Gemeinde um eine Vielzahl zerstörter oder beschädigter Häuser bedeutete ja zunächst eine Belastung. So äußerte Bürgermeister Haverkamp von Dinxperlo vor der Presse unverhohlen seine Verstimmung über den neuen ,bizarren' Grenzverlauf, zumal ja die bisherige Grenze zunächst ebenfalls bestehen blieb.
Die bedrückte Stimmung der Suderwicker Bevölkerung fand ihren Ausdruck in bewegenden Gottesdiensten: Am 19. April verabschiedete sich der Bischof von Münster in der (kath.) Kirche von diesem Teil seines Sprengels; drei Tage später, am Vorabend der Grenzverlegung, nahmen die evangelischen Christen am feierlichen „Abschiedsgottesdienst“ in ihrer Kirche, direkt an der neuen Trennlinie gelegen, teil.
Mächtige Fürsprecher fanden die unfreiwilligen Grenzgänger sogleich in Düsseldorf und (nach Gründung der Bundesrepublik am 23. Mai 1949) dann auch in Bonn. Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Karl Arnold hatte bereits am 11. April, nach dem Abkommen von Paris, eventuell weitergehende Forderungen der Niederlande empört zurückgewiesen und die Beachtung des Völkerrechts für Deutschland eingefordert – vier Jahre nach dem Zusammenbruch der NS-Diktatur und der Befreiung durch Briten und Amerikaner erstaunlich „voIlmundig“ (und damit symptomatisch für die insgesamt instinktlose, wenig sensible Haltung Nachkriegsdeutschlands gegenüber dem niederländischen Nachbarn). Kein Wunder, dass Arnolds Besuch am 20. April beim Außenminister in Den Haag, bis auf technische Details, ohne Ergebnis blieb.
Und ausgerechnet am 8. Mai fand eine große „Grenzlandkundgebung“ in Anholt statt. Ministerpräsident Arnold nannte sie einen „überzeugenden Beweis für den Willen der Bevölkerung, diese Gebietsabtretungen nicht hinzunehmen“ und fügte hinzu, er werde „nicht aufhören“, deren Rückgabe „immer wieder zu verlangen“.
Mit den vielfältigen Schwierigkeiten und praktischen Komplikationen, die das Leben im zweigeteilten Suderwick erschwerten, mussten sich Regierungen und Behörden auf allen Ebenen befassen. Auf deutscher Seite versuchte man durch Bewilligung von Sondermitteln die materiellen Verluste auszugleichen. Eine besondere Unterstützung gab es durch den Kreistag Borken, der u.a. die Patenschaft für den Bezug deutscher Zeitungen übernahm.
Einen negativen Höhepunkt erreichte die Erregung im sog. Schul- und Zeitungskrieg vom Frühjahr 1950: „Ein grausames Attentat gegen Leib und Seele unserer unschuldigen Kinder“, schrieb Pfarrer Wigger im Kirchenblatt „Kirche und Leben“, die Erbitterung gehe so weit, dass man am liebsten eine hohe Steinmauer am Hellweg errichten würde, um von Dinxperlo und Holland nichts mehr zu sehen... „Halten Sie ein, Herr Haverkamp“, kommentierte die „Rundschau für Bocholt“ eine Mitteilung des Dinxperloer Bürgermeisters an die Eltern, wonach Erstklässler keinen Zugang mehr hätten zur Katholischen Volksschule im besetzten Teil Suderwicks: die „unschuldigen Kinder“ müssten „büßen für das, was eine kleine Gruppe SS-Mitglieder und Grüne Polizei“ getan hätten...
Pfarrer Wigger leitete die verständlichen Proteste der Eltern weiter an Bundeskanzler Konrad Adenauer; dieser wandte sich, dem Besatzungsstatus der Bundesrepublik entsprechend, an den Präsidenten der Alliierten Hohen Kommission, General Robertson, der den Protest auf diplomatischem Wege nach Den Haag weiterleitete. Der Konflikt endete mit einem Schreiben des Kommissars der Königin an Bürgermeister Haverkamp, wonach der Ministerrat beschlossen habe, dass die Kinder des „angeschlossenen Gebietes“ weiterhin zur Schule zugelassen wären; es bliebe jedoch beim Niederländisch-Unterricht bereits im 1. Schuljahr.
Auf anderen Gebieten ging die Auseinandersetzung weiter. So beklagte sich Bürgermeister Haverkamp über zunehmenden Schmuggel und Alkoholmißbrauch. Zudem träten immer wieder Schwierigkeiten bei der Verzollung von Gütern auf. Er nahm dies – im Mai 1952 – erneut zum Anlass, eine Annexion ganz Suderwicks zu fordern und dabei die deutsche Bevölkerung, die in seinen Augen größtenteils Nazis waren, auszuweisen.
Nicht viel anders – sozusagen durch das Vergrößerungsglas – die Sicht der Probleme auf deutscher Seite: Drei Jahre nach der Anholter Kundgebung, am 9. Mai 1952, begab sich der Kreistag des Kreises Borken nach Suderwick. Auf dieser außerordentlichen Sitzung verabschiedeten die versammelten Kommunalpolitiker eine Denkschrift an die Adresse der Bundesregierung sowie der Landesregierung Nordrhein-Westfalens, in der die Vielzahl der täglichen Beschwernisse aufgelistet wurden: „Die mannigfachen Beziehungen verwandtschaftlicher, bekanntschaftlicher, geschäftlicher, kultureller, sportlicher und geselliger Art zu den deutschen Nachbargemeinden und zu Bocholt sind entweder gänzlich abgeschnitten oder doch zumindest stark beeinträchtigt. Auch die alten Verbindungen zum Arzt in Anholt sowie zu den Krankenhäusern in Anholt, Bocholt und Isselburg sind sehr erschwert", heißt es dort unter anderem. „Kein noch so guter Wille der Grenzbeamten“ werde „verhindern können, dass immer wieder wegen des Besuches kirchlich-religiöser Veranstaltungen und insbesondere der Schulen Reibereien, Ärger und Verdruss entstehen“. Die Denkschrift gipfelte in dem Appell: „Es wäre zu wünschen, dass die niederländische Regierung auf Grund der Erfahrungen schon vor der Entscheidung durch einen Friedensvertrag und sobald wie möglich auf das hier abgetrennte Gebiet verzichtet und ihre Zustimmung zur Wiederherstellung der alten Grenze gibt. Damit wäre allen Beteiligten am besten gedient.“ […]
1960 kam es, zwei Jahre nach Inkrafttreten der Römischen Verträge, zum Abschluss des Vertrags zwischen dem Königreich der Niederlande und der Bundesrepublik Deutschland über den Verlauf der Grenze. Da zur Ratifizierung dieses Abkommens noch einmal, in Bonn wie in Den Haag, erhebliche Widerstände zu überwinden waren, dauerte es bis zum 1. August 1963, bis der alte Grenzverlauf – mit einer kleinen Begradigung aufgrund der Erneuerung des Heelwegs – wiederhergestellt war.
Wer heute am südlichen Bordstein des Hellwegs verweilt, vermag sich die täglichen Probleme im vierzehn Jahre zweigeteilten Suderwick ebensowenig mehr vorzustellen wie die uns heute fremd anmutenden nationalistischen Aufwallungen an einer Grenzlinie, die nun zur kaum noch spürbaren „Narbe der Geschichte“ geronnen ist.
Text: Peter Leibenguth-Nordmann
Beigetragen von: Heimatverein Suderwick