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Meine Grenzerfahrungen

Mit zwölf Jahren aus den Niederlanden ausgewiesen

Königinnentag in Gorssel 1937 - mein Vater zweiter von links hintere Reihe.
 

Meine Erlebnisse mit der Grenze fangen schon bei meinen Vorfahren an. Beiden Eltern sind an der deutsch-niederländischen Grenze geboren. Der Grenzübergang ist Bad Bentheim Gildehaus - Oldenszaal - de Lutte. Das Elternhaus meiner Mutter lag circa einen Kilometer vom Grenzübergang entfernt, das meines Vater etwa eineinhalb Kilometer. 

Mein Urgroßvater hat Bentheimer Sandstein von Gildehaus nach Deventer in Holland mit dem Pferdefuhrwerk gebracht. Die Männer waren für den Hin- und Rückweg eine Woche unterwegs. Die Frauen mit ihren Kindern waren damals sehr froh, wenn alle gut wieder nach Hause kamen. Denn zu damaliger Zeit wurden die Männer, die ihre Fracht bar bezahlt bekamen, häufig überfallen. 

Als meine Mutter, die 1902 geboren wurde, ein Schulkind war, ging sie mit ihrer älteren Schwester zu der Grenze, um für die Oma holländische Lebensmittel einzukaufen. Gleich hinter der Zollstation war ein kleines Lebensmittelgeschäftchen, das bis in unsere Zeit erhalten geblieben ist. Die Grenzkontrolle ließ die Kinder ohne Ausweis in das Lädchen gehen. Beliebt waren holländischer Tee, „Pepermuntje“ (Pfefferminz) und holländischer Zwieback. 

Nach dem ersten Weltkrieg war Holland ein sehr reiches Land und hatte Kolonien im heutigen Indonesien. Viele junge Menschen aus der Grenzregion suchten sich deshalb Arbeitsstellen in den Niederlanden. Die jungen Mädchen begannen überwiegend als Haushaltshilfe. Für die Männer waren technische Beruf interessant. Auch meine Mutter ging als 18jährige nach Holland und arbeitete als Haushaltshilfe. Ihre erste Stelle in Deventer fand sie über Freundinnen. Nach vier Jahren suchte sie sich eine neue Herausforderung und bewarb sich als Köchin in einem herrschaftlichen Haus in Gorssel.

Die Angestellten bekamen einmal im Jahr vierzehn Tage Heimaturlaub. In der damaligen Zeit war das etwas Besonderes. Meine Mutter hatte mehrere Geschwister, die schon Familie hatten und sie nutze den Urlaub, um diese zu besuchen und ihnen bei der Arbeit zu helfen. Es gab neben großen Bauernhöfen viele Nebenerwerbslandwirte. Der Mann half dabei vor und nach der Arbeit, die Tiere zu versorgen. 

Für die Menschen, die in den Niederlanden arbeiteten, galt absolute Passkontrolle. Schon ab Oldenzaal saßen Zöllner im Zug, die Pass- und Taschenkontrollen durchführten. Besonders war in der Zeit der holländische Kaffee beliebt, aber er durfte nicht nach Deutschland eingeführt werden. Meine Mutter hatte die tolle Idee, Kaffeebohnen für ihre Großmutter in einen breiten Rocksaum zu schmuggeln. Bevor der Zug in Grenznähe kam, bekam meine Mutter Sorge, dass der Kaffeegeruch den Zöllnern auffallen könnte. Dann nahm sie Kölnisch Wasser und parfümierte sich damit ordentlich ein. Sie hat jedes Jahr ihr Mitbringsel ohne Schwierigkeiten über die Grenze gebracht. 

1930 begegneten sich meine Eltern in Gorssel bei einem Fest. Es war der Geburtstag der Königin, der in jedem Ort ein freier Tag war und gefeiert wurde. So gab es Umzüge und abends Tanzveranstaltungen. Auf dem Foto, das am Koninginnedag 1937 aufgenommen wurde, steht er in der jindteren Reihe als Zwwiter von Links. Er hat  damals die Technik für den Brunnen, bzw. den Wasserfall entworfen und gebaut.

Mein Vater hatte in Schüttorf eine Ausbildung als Schlosser und Schmied gemacht, bevor er im 1. Weltkrieg zuerst in der Rüstungsindustrie und dann an der Front eingesetzt wurde. Nach dem Krieg wurde er von einem niederländischen Kunden des Geschäfts, wo er seine Ausbildung gemacht hatte, abgeworben und kam als Maschinenmonteur nach Gorssel.

Nun wurde in Zukunft die Reise in die deutsche Heimat gemeinsam gemacht und Hochzeitsvorbereitungen mit der Familie getroffen. Die Hochzeit fand dann 1934 statt. Meine Eltern fühlten sich so wohl in den Niederlanden, dass sie gerne bei ihrer Heirat die Niederländische Staatsbürgerschaft angenommen hätten. Aber das wurde – 1933 hatte Hitler in Deutschland die Macht übernommen – von den deutschen Behörden nicht genehmigt. Miteinander sprachen meine Eltern das Bentheimer Platt, mit uns Kindern Niederländisch.

Meine Eltern mieteten ein Haus in der Nähe von Deventer und nun gab es die Möglichkeit, dass ihre Nichten und Neffen in ihren Ferien zu meinen Eltern nach Holland fuhren. Mit der Herrschaft der Nationalsozialisten in Deutschland aber wurden die Grenzkontrollen strenger. Zur Einreise brauchten sie einen Reisepass mit Lichtbild und kamen meistens zu zweit zu Onkel und Tante. Wer hatte die Möglichkeiten zu solchen Ferien in dieser Zeit? Meine Eltern waren liebevolle Gastgeber. 

1936 wurde ich geboren und da meine Eltern in Gildehaus geheiratet hatten, wurde ich dort getauft. Später erzählten meine Cousinen, dass sie stundenlang auf Onkel und Tante gewartet hatten, die über die Grenze nach Deutschland kamen, denn meine Eltern hatten sich für die Reise mit Baby ein Auto gemietet. Ein Auto war zu dieser Zeit noch etwas ziemlich Besonderes.

1939 wurde im Oktober mein Bruder geboren und zu der Zeit hatte Hitler gerade den Krieg mit Polen begonnen. Meine Eltern, die als Deutsche in Holland lebten, durften nicht mehr nach Deutschland einreisen. So musste mein Bruder in der Kirche in unserem Dorf getauft werden. Im Mai 1940 besetzten die deutschen Truppen in wenigen Tagen die Niederlanden. Ein Onkel von mir war begeisterter Soldat geworden, kam zur grünen Polizei und arbeitete an der Grenze. So war es möglich, dass ich in meinen Sommerferien 1942 meine Verwandten in Deutschland besuchen durfte. Wir bekamen die Genehmigung, dass ein Elternteil mich über die Grenze bringen durfte und mein Vater und ich im Elternhaus meiner Mutter für ein paar Stunden ein Familientreffen genießen durften. Abends musste mein Vater zu einer bestimmten Zeit wieder am Grenzübergang sein und ich durfte bei vielen Verwandten drei wunderschöne Wochen erleben. Damit meine Mutter ihre Verwandten auch mal kurz wiedersehen konnte, kam sie mich abholen. Da ihr Elternhaus der Grenze am nächsten war, versammelte sich die ganze große Familie auf dem Hof. Es war unbegreiflich, dass wir diese Gelegenheit hatten. 

1943 hatte mein Onkel bei seinen Vorgesetzten einen Antrag gestellt, dass meine Eltern mit uns Kindern über die Pfingsttage die Verwandten besuchen möchten. Freudig erregt auf dieses große Ereignis fuhren wir mit dem Zug nach Oldenzaal und von dort mit unseren mitgenommenen Fahrrädern zur Grenze. Einen Tag zuvor hatte an der Grenze ein Personalwechsel stattgefunden. Mein Onkel kam aus dem Zollhaus heraus als er uns sah und musste uns mitteilen, dass die neue Besatzung das Familientreffen nicht erlaubte. Da einige Verwandte uns schon am Grenzübergang empfangen wollten, wurde genehmigt, dass wir uns eine kurze Zeit am Schlagbaum sprechen konnten. Tief enttäuscht mussten wir nach Hause fahren. Aber es herrschte Krieg und wir mussten uns mit dem Geschehen abfinden. 

Je länger der Krieg andauerte, desto schwieriger wurde der Postverkehr. Eine Verwandte von uns, hatte gute Beziehungen zu Grenzgängern. Auch im Krieg kamen holländische Männer tagsüber nach Deutschland, um zu arbeiten und meine Tante kannte einige davon. Sie nahmen die Briefe mit über die Grenze, sodass sie uns mit der holländischen Post erreichen konnten. Auf diese Weise wussten wir ab und zu, wie es unseren Verwandten erging.

Nach dem Krieg wurde 1945 zu beiden Seiten der Grenze ein Niemandsland eingerichtet. Das hieß, dass die Bewohner, die in diesem Bereich lebten, ihre Häuser verlassen mussten. Nur mit einem Ausweis, den sie bekamen, durften sie in ihre Häuser und konnten sie die Felder bestellen, die in Grenznähe lagen. Eine Tante, die ihren Mann und ihren Sohn im Krieg verloren hatte, musste mit ihrer Tochter ihr Haus verlassen und bei Verwandten Unterkunft suchen.

Mein Vater, der noch kurz vor Ende des Krieges deutscher Soldat werden musste, kam 1945 in Belgien in englische Kriegsgefangenschaft. Als das Lager in Belgien zum Winter 1945 aufgelöst wurde, wurde er nach Deutschland zu seinem Elternhaus entlassen – er konnte nicht zu uns nach Gorssel zurückkehren. Aber auch in dieser schwierigen Zeit hat es meine Tante geschafft, einen Brief über die Grenze zu schmuggeln, sodass wir wussten, dass mein Vater jetzt bei den Verwandten untergekommen war. Er arbeitet in Schüttorf in der Schmiede bei einem Onkel.  

Inzwischen wurde in Holland mithilfe der englischen Besatzung das wirtschaftliche Leben wieder normal. Der holländische Chef meines Vaters brauchte ihn dringend zur Arbeit und war auch bereit, dafür etwas zu bezahlen. In der Zeit gab es Grenzbesatzungen, die gerne ihr Einkommen ein bisschen aufbessern wollten. Für eine gewisse Summe wurden Leute über die grüne Grenze (über Felder und Wiesen, wo es keine Grenzkontrollen gab) gebracht. Die Felder waren damals aber kleiner als heute und von Wallhecken umgeben. In den Hecken versteckten sich Grenzbewacher. Der Chef hatte veranlasst, dass meine Mutter an die Grenze fuhr, um dort zu verhandeln, dass mein Vater über die Grenze nach Holland gebracht werden würde. Mein Onkel, der Felder im Niemandsland besaß, die er bestellen musste, verbarg meinen Vater unter Stroh und brachte ihn zum verabredeten Standort an der Grenze. Dort nahm ihn der Zöllner, der ihn über die grüne Grenze bringen sollte, in Gewahrsam mit der Erklärung: „Wenn eine Kontrolle kommt, sind sie mein Gefangener“. Leider kam eine Kontrolle, sodass mein Vater ins Kreisgefängnis nach Nordhorn kam. Dort hat er eine Zeit verbracht, bis die ganze Verwandtschaft die Summe aufgebracht hatte, mit der er freigekauft werden konnte. Er blieb danach bei der Verwandtschaft in Deutschland.

Meine Mutter musste unverrichteter Dinge von der Grenze wieder nach Hause kommen. Ein paar Monate später, im März 1946, wurde ein zweiter, nun erfolgreicher Versuch gestartet und wir konnten unseren Vater wieder Zuhause in Holland in Empfang nehmen. 

In unserem Dorf waren meine Eltern so beliebt, dass die Nationalität keine Rolle spielte. Wir wurden nicht als Deutsche wahrgenommen. Ende 1946 erzählte eine Nachbarin, dass deutsche Bürger, die in Holland lebten, nach Deutschland ausgewiesen würden. Eines Morgens, es war der 17. September 1947, klingelte es früh an unserer Haustür und als mein Vater öffnete, stand dort die Polizei mit der Nachricht: „Alle Deutschen werden aus Holland ausgewiesen, Sie auch.“

Innerhalb von zwei Stunden durften wir nach Vorschrift nur Kleidung, etwas Geschirr und Bettzeug einpacken, was sofort auf einen kleinen LKW geladen wurde. Dabei wurde alles genau registriert, damit wir nichts Unerlaubtes mitnehmen konnten.  Wir wurden nach Nijmegen gebracht, kamen in ein großes Barackenlager und wurden angewiesen, zu viert eine Baracke für zwanzig Personen auf unbestimmte Zeit zu bewohnen. Nach einer Woche wurden wir dann zu den Verwandten meiner Eltern in Deutschland entlassen. Wir wurden wieder mit einem LKW transportiert und mit uns fuhr eine Familie aus Ahaus. Diese stieg als erstes aus. Wir fuhren durch Münster und ich kann mich noch gut daran erinnern, dass es für mich die erste durch den Krieg zerstörte Innenstadt war. Wir kamen in ein Auffanglager nach Lüstringen bei Osnabrück und von dort wurden wir am nächsten Tag wieder mit einem LKW nach Gildehaus bei Bad Bentheim gebracht. Jetzt waren wir Deutsche in Deutschland und durften nicht über die Grenze zu unseren Freunden nach Holland. Erst 1952 durften meine Eltern einen Pass beantragen und ein Visum, um über die Grenze zu ihren Freunden in die Niederlande zu kommen – in das Land, in dem sie 28 Jahre gelebt hatten.

Mein Vater fand noch 1947 eine feste Stelle und meine Mutter sorgte dafür, dass wir Deutsch lernten und in die richtige Klassenstufe eingeschult wurden.

Nach und nach änderte sich die Grenzsituation. Ende der 50er Jahre brauchten wir zwar noch einen Pass beim Grenzübergang, aber wir konnten in der Grafschaft Bentheim nach Holland, um Freimengen einzukaufen. Das bedeutete pro Person eine gewisse Menge an Kaffee, Tee und Zigaretten, die zu der Zeit in Holland sehr günstig zu kaufen waren.

Vor kurzem fand mich eine Schulfreundin aus Gorssel, die sechzig Jahre nach mir gesucht hatte. Ich wurde mit zwölf Jahren abtransportiert und konnte mich nicht von meinen Schulfreundinnen verabschieden. Sie las im Deventer Dagblad einen Artikel über die Firma, in der mein Vater gearbeitet hatte, rief den Chef an und fragte nach unserer Familie. Da ich meinen Vater nach 1952 einige Male auf seinen Besuchen in die Niederlande begleitet hatte, konnte der Chef den Kontakt zu mir herstellen.

Ich bin sehr froh, dass wir heute im vereinten Europa leben und frei reisen dürfen!

 

Juni 2020

Die Beiträgerin möchte namentlich nicht genannt werden, ist aber der Redaktion bekannt

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