In Gronau, wo ich geboren bin, war die Grenze Teil unseres Lebens: Nur etwa 1.000 Meter hinter unserem Haus begannen die Niederlande. Wir hatten die D-Mark und dort zahlte man mit „Gulders“, wir sprachen Deutsch und dort sprach man „Nederlands“ und vieles mehr. Alles kein Problem, am wenigsten wohl für uns Kinder, die erst später erfuhren, dass die Leute in den Niederlanden nach dem Überfall der Nazis vieles zu erdulden gehabt hatten.
Die Grenze hatte für uns nichts Bedrohliches, sondern es war immer etwas Besonderes, wenn wir beispielsweise mit der Bahn nach Enschede, der nächstgelegenen Großstadt auf holländischer Seite fuhren. An Wochenenden ist die ganze Familie bei Schönwetter oft zum weiter entfernten Bundesstraßen-Grenzübergang „Glanerbrug“ gewandert und dort durften wir uns bei „Verspohl“ im direkt an der Straße gelegenen Gastgarten eine Limo bestellen und haben beim Schlagbaum den Zöllnern bei der Passkontrolle und Zollabfertigung zugeschaut.
Unser Verhältnis zum Straßenverkehr war damals noch ganz anders: Das Automobil war gleichsam sichtbares Kennzeichen von Fortschritt und Wohlstand und wir staunten, wenn wir erstmals den neuen Opel-Kapitän, einen Mercedes 180 oder einen Weltkugel-Ford unter all den VW-Käfern sahen, während die wohlhabende Holländer oft mit amerikanischen Straßenkreuzern unterwegs waren. Besonders interessant waren unsere neuen weißen Kennzeichentafeln. Bis 1956 waren sie schwarz gewesen mit einem Buchstaben für die Besatzungszone und einer Buchstabenfolge darunter für den Regierungsbezirk sowie einer laufenden Nummer. Nun konnte man einfach und genauer erkennen, woher die Lenker kamen. Bald konnten wir Burschen so gut wie alle Kennzeichentafeln auswendig regional zuordnen. Wie das bei den Mädchen war, weiß ich nicht, denn bei uns in der Nachbarschaft gab es nur Jungs. Von Mädchen hatte ich zwar gehört, persönliche Kontakte aber hat es erst in der Schule gegeben.
Mein erster Schulweg führte mich durch die Zollstraße und dort standen die großen Hallen der Speditionen bzw. der Bundesbahn für all die Waren die über unsere Grenze umgeschlagen wurden. Ein Onkel von mir arbeitete bei der Güterkasse der Bahn und ein anderer in der Niederlassung einer bekannten belgischen Spedition. Klar, dass ich begann, mich für den internationalen Warenverkehr zu interessieren; als Kind natürlich zunächst für alles, was sich auf Schienen und Straßen bewegte. Später dann in der Realschule wurde mir schnell klar, warum faire zwischenstaatliche Freihandelsabkommen so wichtig für alle Beteiligten sind. Der Wegfall aller Handelshemmnisse? Welch eine phantastische Vorstellung! Ich hielt das alles damals für unmöglich.
Jedoch hatten wir mit der Europäischen Union beim Freien Verkehr von Personen, Kapital sowie Waren und Dienstleistungen innerhalb eines Zeitraums von nur etwa 50 Jahren schon einmal unglaublich viel erreicht. Gegenwärtig aber leben wir in einer Phase, in der all dies weniger wichtig zu sein scheint. Anscheinend glaubt man jetzt vielerorts, sogar mit verstaubten nationalen Klischees einfacher politisch punkten zu können. Mit bedenklichem Erfolg.